Sonntag, 16. September 2018

Herr Grazizoff


Nachts so gegen 23.20 Uhr war Highlife in der Notaufnahme. Ein Magendarminfekt ging herum und vielen Leuten kam die glorreiche Idee das sofort in so einem professionellen Klinikum abchecken zu lassen. 

„Ich habe Durchfall seit 2 Stunden.“ – „Hmhm.“

Während ich nun Infusionen und freundliche Zusprache verteilte, ging das gute Desinfektionsmittel aus, dann rief plötzlich Station 109 an. 

„Öh hallo? Der einzige internistische Dienstarzt vor Ort spricht, sie wünschen?“

„GAAAAAHHH!“ sagt Head-Schwester Benuta, „du musst mal kommen. Unser Patient, der Herr Grazizoff, der läuft überall rum.“

„…?“

„Also auch in die Zimmer der anderen Patienten!!! Du musst kommen!!!“

Ja, nun denn kam ich halt, denn Schwester Benuta hörte sich sehr unglücklich an. Ich dachte daran Herrn Grazizoff irgendein Gespräch oder ein Schlafmittel angedeihen zu lassen. Oder auch beides. 

Dieser Plan war toll, hatte aber nichts mit der Realität zu tun.

Auf Station 109 herrschte Prä-Armageddon. Ein Patient stand beunruhigt vor dem Stationszimmer: ein großer Mann mit blondem Vollbart und entblößtem Oberkörper wäre gerade in sein Zimmer gelaufen.
 Eine weitere Patientin mit kurzen, grauen Locken wanderte zudem in geblümtem Morgenmantel durch den Flur und stürzte sich auf mich. Genannter Mann sei auch in ihrem Zimmer aufgetaucht. Sie habe Angst.

Schwester Benuta knallte mir eine Akte vor die Nase: Herr Grazizoff, stationär mit neu diagnostiziertem, tachykardem Vorhofflimmern. Außerdem trinke er wohl regelmäßig eine unklare Menge an Alkohol. Möglicherweise das Problem jetzt ohne Alkohol. Und übrigens: Herr Grazizoff spräche nur kasachisch. Kasachisch? Also aktuell zumindest. Vielleicht auch etwas Russisch.

Ich ließ mir eine doppelte Standarddosis unseres beliebten Anti-Alkoholentzugsdelir-Benzodiazepins aushändigen und machte mich frohgemut auf den Weg. Die Flurpatientin verfolgte mich, während sie ununterbrochen flüsterte: „Ich habe Angst, ich habe Angst, ich habe Angst…“

Die Zimmertür des Herrn Grazizoffs stand offen und Herr Grazizoff 2 Meter groß, 1 Meter breit, o.g. Vollbart, weiterhin ohne Oberbekleidung lag tugendhaft im Bett. Ich begann nun ein Gespräch, auf dessen Fragen und Sätze Herr Grazizoff mir ausschließlich auf Kasachisch antwortete. Manchmal wiederholte er auch Wörter, die ich sagte und lachte laut. Dann wollte ich die Pupillenreflexe des Patienten prüfen, aber Herr Grazizoff sah hierin einen Versuch meinerseits seine Augen auszustechen. Nach einer längeren pantomimischen Darstellung meiner wahren Intentionen durfte ich mich der regelhaften Funktion seiner Pupillenreflexe überzeugen, was nicht wirklich weiterhalf und weiterhin die Frage aufwarf wie klug es jetzt war sich mit diesem Patienten im gleichen Zimmer aufzuhalten oder überhaupt in seine Pupillen zu leuchten. Mein tolles Beruhigungs- und Schlafmittel verweigerte er energisch. 

Ich rief nun die Psychiater, denn das alles kam mir komisch vor und dann telefonierten wir eine Viertelstunde die Klinik ab, bis wir jemand fanden, der verstand was Herr Grazizoff eigentlich sagte und erklärte, der Patient halluziniere. Eine Menschenmenge würde draußen Autos auf der Straße anhalten und im Anschluss mit Benzin anzünden. Dies sagte Herr Grazizoff während er seinen Aufenthaltsort auf’s Fensterbrett verlegte.
Auf dem Flur tigerte derweil meine geblümter-Mantel-Patientin hin und her und fing mich ab sobald ich auch nur den Kopf auf dem Zimmer steckte: „Machen sie doch was! Ich habe Angst, ich habe Angst!“ Das beschleunigte meine Arbeit ganz ungemein. Nicht. Ich erklärte grumpelig, wir würden uns um alles kümmern!! Wir hätten das voll im Griff. 

Herr Grazizoff machte derweil Anstalten aus dem Fenster zu gehen, was blöd war, da wir uns im 3. Stock befanden. Nachdem das Grazizoff’sche Eigen- und Fremdgefährdungspotential immer weiter eskalierte, „kümmerten“ wir Herrn Grazizoff in ein Fixierbett und banden ihn dort fest. Herr Grazizoff schrie nun unerfreut kasachische Dinge. Manchmal hörte er auch damit auf und grinste maliziös in unsere Richtung. Wer auf der 20 Betten Station jetzt noch geschlafen hatte, der war jetzt endgültig wach. Auf den Flur traute sich auf jeden Fall keiner mehr. Auch nicht mehr die geblümter-Mantel-Dame.
Die Psychiaterin telefonierte derweil weiter verzweifelt mit ihrer Oberärztin und Herr Grazizoff spuckte erfreut unsere Anti-Delir-Medikation durch den Gang.
Dann stressten wir eine Psychiatrieschwester sie solle uns bei der Medikamentenapplikatin helfen und suchten schon mal die intravenösen/intramuskulären Medikamente zusammen. Hier entschloss Herr Grazizoff vor so einer Psychiatrieschwester Respekt zu haben, lächelte und nahm freundlich die dargebotenen Tropfen ein. Hmhm.
Es ward denn Ruhe für einige Stunden. 

 


Samstag, 1. September 2018

„Halt 1x vernünftig“



Frau Gramzo hatte Herzrhythmusstörungen. Man verabreichte der Patientin daraufhin ein beliebtes Standartpräparat, den Betablocker. Dann nahm Frau Gramzo an Gewicht zu und vermutete, dass diese neue Tablette Schuld war. Leider waren nun aufgrund diverser Vorerkrankungen und Allergien nicht alle Alternativen möglich, die die fancy Medizin so bot.


Deswegen setzte man das äh alles wieder ab. Daraufhin hatte Frau Gramzo eine Herzfrequenz von 140/min und weil das auf Dauer schlecht war, schickte ihr Hausarzt die Patientin in eine nahegelegene Klinik, die prompt den Betablocker wieder ansetzte.


So befand ich mich nun plötzlich täglich mehrere Male im Zimmer von Frau Gramzo, die regelmäßig Wutanfälle oder anders geartete Verzweiflungsattacke erlitt, denn den Betablocker wollte sie jetzt echt nicht nehmen. Ich erklärte sehr lange und ausführlich warum der Betablocker nötig wäre und warum die anderen Alternativen in ihrem Fall nicht möglich seien. Nach zwei Tagen drohte Frau Gramzo aus dem Fenster zu springen. 


Ich sprach also denn mit meinem Oberarzt ob dieser Problematik und der Oberarzt grumpelte missmutig: „Ha der Frau muss man das halt einmal vernünftig erklären. Dann versteht sie das schon!“  Nachdem ich der Patientin nun schon mehrere Male alles ausführlich und vernünftig erklärt hatte, erklärte ich genanntem Oberarzt, dass er doch bitte selbst so eine vernünftige Erklärung vorführen sollte.


Es folgte der Folgetag und die Oberarztvisite. Mit sonorer Stimme und strenger Miene erzählte mein Oberarzt die Geschichte vom Betablocker. Frau Gramzo fragte misstrauisch nach, brach jedoch zum ersten Mal nicht in Tränen aus und nickte am Ende verständig. Ja, da würde sie das Medikament halt mal einnehmen.


Tja, dachte ich mir, jetzt musst du mal gut überlegen, was du falsch machst. 


Dann ging ich nochmal ins Patientenzimmer, um bei der Nachbarpatientin eine Kanüle zu legen. Frau Gramzo winkte mich sogleich heran: „Also Frau Zorgcooperations: Der Oberarzt gerade eben, der war ja nicht so gut! Zum Glück sind SIE meine Stationsärztin.“ Hmhm.


Am Ende gelang dann aber tatsächlich die Behandlung mit dem Betablocker und dem Versprechen, dass sich Frau Gramzo bei Problemen jederzeit in unserer ambulanten und kardiologischen Sprechstunde melden durfte.