08.00 Uhr: Ich ergattere das notwendige Notarztzubehör
von meinem Vorgänger: Ein Telefon, das nur in der Klinik funktioniert, einen
Piepser, das Notarzt-IPad, das Ladegerät für das IPad.
Weil es noch so früh am Morgen ist, schlafe ich erst mal
weiter.
11 Uhr: Das Wetter ist schön. Der Alarm piepst: ein
Mann sei mit dem Fuß in den Rasenmäher getreten. Der Fuß wäre nun weiß (?!?)
und blutüberströmt. Olli, mein Fahrer brettert durch die Landschaft. Auf halbem
Weg funkt die Leitstelle: Doch nicht so schlimm, nur eine kleine Abschürfung,
die Notfallsanitäter vor Ort hätten das im Griff, kein Notarzt von Nöten. Olli
hält erst mal auf einem Parkplatz, damit die Autofahrer, welche wir geradeeben
wild überholt haben, unbemerkt an uns vorbeifahren und nicht denken wir wären
blöd oder Idioten oder nur zum Spaß da.
15 Uhr: Das Wetter ist immer noch schön. Beim
Frauenfußballtunier in der hintersten Ecke von Beteigeuze ist jemand schlimm
umgeknickt. Wir fahren gefühlt eine halbe Stunde durch idyllische Landschaft.
Wir halten für ein Reh. Der Rettungswagen ruft uns ungeduldig an, wo wir
eigentlich blieben. Ich erzähle dem Notfallsanitäter schon mal was er an
Schmerztherapie machen kann. Der versteht nur die Hälfte, weil wir fahren ja
besonders schnell mit Blaulicht und Trallala. Wiederhole mich circa. 5 Mal
damit alles klappt.
Ankunft: Aha, Kniescheibe disloziert, vermutlich mit zusätzlichem
Bänderriss. Schmerzmittel ist ja schon
appliziert. Ich appliziere noch mehr davon, und kämpfe mich durch mir nicht
vertrautes Fußballerinnenzubehör mit Stollenschuhe und Schienbeinschützer. Wir reponieren
die Kniescheibe, schienen alles und fahren den ganzen Weg zurück. „Meinen sie
dass ich morgen wieder in meinem fußläufigen-gehintensiven Beruf arbeiten
kann?“-„Äh, nein.“
17 Uhr: Es regnet. Herr Michele ist im Altenheim vom
Stuhl gefallen. Jetzt habe er starke Rückenschmerzen. Herr Michele ist
superdement und hat keinen Plan was ich eigentlich von ihm will oder warum wir
um ihn herumspringen. Er liegt am Boden und lächelt freundlich, während ich ihn
untersuche: Abschürfungen an den Armen und eine Platzwunde am Hinterkopf.
Außerdem tut der Rücken weh, wenn man ihn bewegt. Nach etwas Schmerzmittel
lagern wir Herr Michele achsengerecht und alles auf eine Schaufeltrage und dann
auf eine Vakuummatratze, um dann dem Altenheim zu entfliehen. Das Personal
fängt derweil Herrn Michels beste Freundin ein, die die Gelegenheit nutzt, dass
die Tür offen ist.
Der Chirurg schimpft, wir sollen nicht so viele chirurgische
Patienten bringen.
21 Uhr: Nachforderung vom Rettungsdienst. Frau
Pflein-Plaume hat in einem Pflegeheim gewohnt, da sie einen Schlaganfall hatte.
Jetzt habe sie kein Geld mehr und wäre vor einigen Tagen zurück in ihre
Mietwohnung gezogen. Heute sei sie schon zwei Mal gefallen. Die Nachbarn hätten
den Rettungsdienst alarmiert. Frau Pflein-Plaume will aber nicht in eine Klinik.
Die Wohnung stinkt nach Fäkalien. In der Spüle liegt das
schmutzige Geschirr der letzten Tage, auf dem Tisch eine halbverzehrte Mahlzeit
in einer Aluschale.
Ich untersuche Frau Pflein-Pflaume. Aufgrund des
Schlaganfalls läuft sie unsicher. Sonst fehlt ihr nichts. Das Ganze ist ein
organisatorisches Versorgungsproblem.
Wir reden lange auf Frau Pflein-Plaume ein. Frau Pflein-Pflaume
ist orientiert, bei sich und sagt repetitiv nein. Sie geht nicht mit in die Klinik!
Zwingen können wir sie zu nichts.
Am Ende geben wir zur Sicherheit ihr Handy in die
Hosentasche, damit sie jederzeit Hilfe rufen kann und verlassen das Haus mit
schlechtem Bauchgefühl.
01.00 Uhr: Am anderen Ende von Beteigeuze habe sich
irgendjemand wohl ganz schrecklich betrunken. Wir fahren erneut eine halbe
Stunde durch die dunkle, idyllische Landschaft und illegalerweise (mit
Blaulicht vielleicht auch legal) durch diverse Absperrhütchen und eine große
Baustelle. Wir halten für noch ein Reh.
Winkende Leute weisen uns ein. In der Wohnung herrscht
gepflegte Hysterie. Natascha, 15 Jahre alt oder so hat Geburtstag gefeiert.
Dann sei es Jan nicht gut gegangen und jetzt liege er da! Nataschas Mutter
erklärt aufgeregt, dass die Kinder doch gar keinen Alkohol bekommen hätten! Natascha
weint und schreit. Nataschas Freundin würde gern ein Smartphonevideo machen.
Jan stöhnt und macht die Augen auf, wenn man ihn rüttelt. Ich lasse ihn in
stabiler Seitenlage liegen, nehme Natascha kurz mit mir in eine Sofaecke: „Habt
ihr wirklich keinen Alkohol getrunken?“ – Ja, sie hätten ein Picknick gemacht
und wären dann noch bei Nataschas Freundin im Garten gewesen. Prosecco hätten
sie getrunken und so ein Cola-Mischgetränk und Wodka auch. „Was?! Wer hat euch
Prosecco und Wodka gegeben?!“ Nataschas Mutter ist nicht erfreut.
Immerhin wissen wir jetzt mehr über das Problem von Jan. Der
Blutzucker ist in Ordnung, die Vitalparameter auch. Als tugendhafter Junge hat
Jan seine Krankenkassenkarte dabei, was immer ein essentieller Punkt im
Rettungsgeschehen ist. Weil Jans Eltern 2 h entfernt wohnen, geht Nataschas
Mutter mit ins Krankenhaus. Wir packen Jan ein, fahren los und während ich noch
denke: „Wie schön, dass er auf dem ganzen Transport nicht erbrochen hat, spuckt
Jan beim Einbiegen in die Klinikauffahrt einmal komplett über sich und die
Liege; Teile landen auch in der Tüte, die ich und die Notfallsanitäterin
verzweifelt vor sein Gesicht drücken. Der Aufnahmearzt freut sich, oder
vielleicht auch nicht.
Ich schlafe weiter, stelle aber den Alarmierungs-Piepser von
diskreter Vibration auf lautes Piepsen, weil ich Angst habe einen Alarm zu
verschlafen.
05.30 Uhr: Der Piepser explodiert mit 100 Dezibel
neben mir. Ich falle aus dem Bett, der Adrenalinspiegel am Anschlag (Ich weiß
schon, warum dieser Piepser tagsüber auf diskretem Vibrationsalarm eingestellt ist.)
„Mann liegt in Schlafsack am Straßenrand.“ „Hä?“ frage ich Fritzi meinen neuer
Notarztfahrer, „Wie? Liegt am Straßenrand in einem Schlafsack? Ist er tot?
Schläft er?“ Fritzi lässt sich durch dumme Fragen nicht durcheinander bringen.
Wir rasen durch den Morgen und erreichen besagte Straße. Die Notfallsanitäter
sind zeitgleich angekommen und erspähen einige Zelte in einem Feld. Ist es das?
Ein Notfallsanitäter stapft ins Feld. „Die schlafen alle.“ „Hast du keinen
geweckt?“ „Nee, habe ich mich nicht getraut.“
Wir fahren weiter die sehr lange Landstraße entlang. „Ah
Moment!“ Ich erspähe einen tarnfarben gefleckten Schlafsack, direkt neben der
Straße. Das wird es sein. Wir halten und ich knie mich ins nasse Gras. „Guten
Morgen? Wir sind vom Rettungsdienst.“ Keine Reaktion. Ich rüttle vorsichtig am
Schlafsack. „Machen sie mal die Augen auf!“ Ein erboster Mann mit grauem
Militärhaarschnitt schält sich nun aus der Schlafgelegenheit. „Grmpf! WAS SOLL
DAS? WAS WOLLEN SIE?!“ Wir stehen inzwischen zu viert um den Mann: 2
Notfallsanitäter, Fitzi und ich. „Jop“,
sage ich, „sie haben halt hier am Straßenrand geschlafen. Da hat sich jemand
Sorgen gemacht!“ „NIRGENDWO HAT MAN SEINE RUHE!“ schimpft der Mann während er
in seine Stiefel steigt, den Schlafsack in einen Rucksack stopft und quer übers
Feld verschwindet.
Wir verschwinden auch wieder. Ich versuche verzweifelt dem
Ei-Pad klar zu machen, dass wir zwar „Patienten“kontakt hatten, aber keine
Vitalparameter erhoben haben. Diese Option hält das Programm nicht vor. Ich schreibe
das Problem im Kommentarfeld auf.
SCHLAFEN!
08.00 Uhr der Folgetag-Notarzt ist da und löst mich ab. Yay!